Rezensent sein? – Lieber was empfehlen

Titel des Buches "Chef sein? - Lieber was bewegen!"Ja, ich bin voreingenommen, denn ich kenne und schätze Gebhard Borck seit Jahren, wir haben uns über seine Ideen lebhaft ausgetauscht. Ich bin also kein "neutraler" Kritiker, das Erscheinen dieses Buches hat mich sehr gefreut, ich wünsche ihm viele, viele Leser. Dem Vorhaben von Stefan Heiler, sich mit seinem Unternehmen im Wettbewerb am Markt ganz ohne “Führungskräfte” zu behaupten, dabei unkonventionell mit einem "Katalysator" namens Borck vorzugehen, gehört meine ganze Sympathie. Es ist ein mutiger Schritt, er hat sich gelohnt, und die ihn wagten, waren so oft am Rande des Scheiterns, dass einen auf über 300 Seiten niemals die Fragen loslassen “Schaffen sie ’s? Und wenn ja – wie?”.

Das liegt auch an der Erzählform. Die Sprache bleibt locker und gut verständlich, selbst wenn durchaus Fachwissen vermittelt wird – etwa an einen Nicht-Betriebswirt wie mich. Graphiken veranschaulichen gedankliche Abläufe und Prozesse im Unternehmen. Einen chronologischen Ablauf in einer Geschichte von Helden, die “per aspera ad astra” dem Sieg entgegen streben, gibt es nicht, stattdessen einen skizzenhaften Aufriss von Begebenheiten, vor allem Konfliktlagen. Sie erscheinen mal anekdotisch, mal als Dialog oder Gesprächsprotokoll, manchmal als lapidarer Bericht. Manche zeitliche Zuordnung mag sich der Leser selbst erschließen, er muss es nicht, um das Wesentliche am Geschehen zu begreifen: Wie bei der Alois Heiler GmbH in Waghäusel eine ganz neue Unternehmensform gelebt – bisweilen erlitten – wurde. Dabei haben alle Beteiligten, nicht nur die Autoren, "Denkwerkzeuge" entwickelt und erprobt, sie haben eine "Firmen-DNA" modelliert, von der andere vergleichbare Vorhaben einiges lernen können.

Zwischen dem Unternehmer Stephan Heiler und seinem Berater Gebhard Borck wuchs während dieses Prozesses eine schöpferische Freundschaft, wie sie sich einer wünscht: Beim Lesen wird deutlich, wie stark das Vertrauen in die Kompetenz und Verlässlichkeit des anderen ist. So etwas steckt durchaus an. Zugleich legten beide größten Wert auf die Transparenz aller Entscheidungen der jeweils Verantwortlichen – und das waren eben keine Chefs, Abteilungs-, Gruppen- oder sonstigen Leiter, sondern immer öfter die Mitarbeiter selbst, Männer und Frauen, die sich in neuen Rollen beweisen mussten – und durften. Keineswegs alle waren mit einer “Sinnkopplung” dauerhaft an derart eigenverantwortliches Handeln in vernetzten, nicht hierarchischen Teams zu binden. Viele verließen Heiler, darunter sehr kompetente. “Der Mensch ist ein Gewohnheitstier”, heißt es nicht von Ungefähr; lieb gewordene Muster und Rituale locken mit einem Gefühl von Sicherheit bei weniger Energieaufwand, womöglich besserer Bezahlung: Angepasst an den Mainstream lebt sich’s für viele komfortabler.

Das Buch ist eine durchaus vergnügliche Lektion übers Fragen, über Reibungen, Missverständnisse und Turbulenzen. Dass Klatsch und Tratsch auch bei diesem Beispiel von “New Work” unausrottbar bleiben, überrascht nicht, aber es macht Spaß, den Autoren bei diesem wie anderen "Fällen" aus ihrem Alltag über die Schulter zu schauen. Wer das – über das Buch hinaus –  tun möchte: Weblogs sowohl des Unternehmens Heiler als auch von Gebhard Borck bieten reichlich Informationen. Patentrezepte werden sich dort kaum finden lassen, dafür eine ermutigende Menge von Erfahrungen im Umgang mit Konflikten auf dem Weg in alternative Arbeitswelten.

Gebhard Borck, Stephan Heiler "Chef sein? Lieber was bewegen! – Warum wir keine Führungskräfte mehr brauchen", 304 Seiten, Heiler&Borck 2018

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Vom Glück, nicht beachtet zu werden

Pieter Brueghel "Superbia" - der Hochmut

Der mechanische Wahn, der alles quantifiziert und sich die Welt zurecht-rechnet, zurecht-modelliert mittels digital inflationierter Statistik, ebnet den Unterschied, also die Qualität, im Dienste von Geldmaschinen oder politschen Superdominanzen – schlimmstenfalls im totalitären Staat – ein. Die Superdominanzen in seiner Gefolgschaft schillern inzwischen in allen ideologischen Tarnfarben – alle erweisen sich als zwiegeschlechtliche Frucht von Kapital und Religion oder Machtgier und Bigotterie oder … denk er sich jede moderne Verbindung jeder Sorte religiösen Irrsinns mit Habgier, Herrschsucht, Rachegelüsten, Schadenfreude etc. hinzu. Dem nicht als – mehr oder weniger williger – Gehherda ausgeliefert zu sein, ist höchstes Glück und köstlicher Tanz auf dem Ereignishorizont.

So weit, so gut. Mir hat es nichts ausgemacht, dass meine Bücher und Weblogs wenig beachtet wurden. Für mich waren sie der Garten, den ich zum Ende meines Lebens hin mit mir gefälligen Blüten bepflanzen wollte, öffentlich zugänglich, allfälligen Besuchern zum Vergnügen. Kritiker mit guten Ideen, wie manches zu beschneiden, zu erneuern wäre, sind darin willkommen. Der Wettkampf von Konzernen und Politbürokraten um die Weltherrschaft wollte es, dass die EU-Administration diese Art individueller Gärtnerei Regeln unterwerfen zu müssen meint, die Aufmerksamkeits-Monster wie Google, Microsoft, Amazon, Facebook etc. im Gebrauch von Nutzerdaten zügelt.

Es war zu lesen, dass Google 500 Mannjahre aufwenden musste, um den Anforderungen der DSGVO nachzukommen. Ein Blick auf die Dienste, die sich unterm Dach dieses Giganten sammeln, die dort auf komplexe Weise vernetzt sind, die einer wie ich gern gratis schon aus Neugier nutzt, lässt einen ahnen, welches Ausmaß solche Regelungswut erreicht. Und ich habe keine Ahnung, inwiefern ich womöglich durch ein dort gehostetes Weblog gegen irgendeine der mir kaum verständlichen Auflagen verstoße, was rührigen Fachleuten dank von schlauen Algorithmen geleisteter digitaler Nachforschungen gestattet, mich kostenpflichtig abzumahnen.

Vorsorglich habe ich also meine Weblogs bei blogger.com entöffentlicht – leider auch "kosmosmensch.blogspot. com", wo ich gratis Texte und deren Überarbeitung zu meinem Buch "Der menschliche Kosmos" zehn Jahre lang zugänglich machte.

An dieser Stelle sei ausdrücklich der Anwaltskanzlei Dr. Thomas Schwenke gedankt, die Bloggern wie mir einen Generator für die DSGVO-konforme Datenschutzerklärung online an die Hand gab: Bei WordPress.com gehostete Webauftritte können hoffentlich auf diese Weise weiterhin Teil des demokratischen Meinungsspektrums bleiben, ohne denunziert und von Profiteuren des Abmahngeschäfts zum Aufgeben gezwungen zu werden. In derlei juristischen Konstellationen bleibt einer freilich – wie auf hoher See – des Geschickes Mächten ausgeliefert. Sei’s drum: Der Schiffbruch ist seit je Lebensrisiko.

Deuter und Diktatoren

Vierbeiner gut – Zweibeiner schlecht!

Wenn Politiker im Kampf um die Deutungshoheit auf dem Weg zur Macht Herdenimpulse nutzen – tut das die Gegenseite, wird sie gern als „populistisch“ geschmäht – leisten immer noch die Methoden der Schweine in Orwells „Farm der Tiere“ gute Dienste. Allerdings zeigt sich, wie bei Orwell nachzulesen, dass die Realität ziemlich hartnäckig widersteht, wenn Ideologen sie schweinemäßig umzulügen versuchen.

Das Wort „Freunde“ erlebte in der DäDäÄrr auf diese Weise einen Bedeutungswandel. Stalinismusverträglich wurde es von der Politbürokratie auf jeden beliebigen Einwohner der Sowjetunion gemünzt. Es gab eine „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft“, wer nicht berufliche Nachteile in Kauf nehmen wollte, wurde Zwangsmitglied – „freiwillig gezwungen“ nannte das der Volksmund. Da insbesondere die Chefs der KPdSU wenig freundschaftliche Gefühle weckten, drückte „die Freunde“ umgangssprachlich das Gegenteil aus: Misstrauen, Hohn, Spott.

Die meisten Russen haben nicht verdient, in diesem Sinn als „Freunde“ bezeichnet zu werden. Das legt die Frage nahe, ob es nicht als zu verfolgende „hate speech“ einzuordnen ist, überhaupt irgendeine Menschengruppe so zu bezeichnen.

Oder anders gewendet: Darf jemand wie Heiko Maas es als „hate speech“ einordnen, wenn ich ihn als Freund, als hm, äußerst honorigen Volksvertreter oder leuchtenden Verfechter des Grundgesetztes bezeichne? In Kenntnis meiner Denkweise könnte er sich womöglich beleidigt fühlen. Das Problem hat E.T.A. Hoffmann im „Meister Floh“ schon einmal illustriert: der Geheime Rat Knarrpanti sah sich jederzeit imstande, Personen zu kriminalisieren. Habe man einen Delinquenten erst einmal inhaftiert, meinte er, fände sich schon das passende Delikt, ihn auch gerichtsfest beliebig lange hinter Gitter zu bringen. Die böse Satire Hoffmanns auf den seinerzeitigen Berliner Polizeidirektor fiel folgerichtig unter Zensur, der Autor entging selbst strafrechtlicher Verfolgung nur, weil ihn der Alkoholtod dahinraffte.

Ich überlege, ein „Dschungelbuch der Deutungen“ zu schreiben, das die ganze Komplexität solcher tierisch-menschlichen Phänomene zumindest aufscheinen lässt. Aber womöglich wäre das nur ein ebenso hoffnungsloser Versuch wie die Texte von Peter Panther, Theobald Tiger,… alias Kurt Tucholsky, den Erich Kästner einmal als kleinen dicken Berliner beschrieb, der versucht habe, mit seiner Schreibmaschine eine Katastrophe aufzuhalten. Die Umdeutungen haben wieder Konjunktur in der Politbürokratie und ihrer ideologischen und journalistischen Gefolgschaft.

Die Einwohner der DäDäÄrr durften zwar Tucho lesen, der war ja Antifa, aber nicht Orwell. Manchmal frage ich mich, ob der Applaus für die Weisen von damals nicht den heutigen Herden als Ersatz fürs Nachdenken über die Verhältnisse im eigenen Gatter dient. In der Regel befreit sie von ihrem Schicksal nur der Schlachter oder ein Wirbelsturm. Aber in stürmischen Zeiten der Freiheit sind Herdentiere meist ratlos, sie wecken nostalgische Wünsche nach verlorener Stallwärme. Zu besichtigen etwa bei den ihrer Sowjetunion beraubten Freunden.

Was bleibt? Tiefes Misstrauen gegenüber Deutern. Tieferes Misstrauen gegenüber Deutern von Gut und Böse. Tiefstes Misstrauen gegenüber Deutern, die Herdenimpulse in Dienst nehmen wollen, indem sie Propaganda als Heilsversprechen ausgeben.

Medienmut

Medusa_1895Die Bomben reißen Löcher in die Zeit.
Genüsslich schlürfen Kameras an Leidensmienen.
Die Journalistin fragt: „Wie geht es Ihnen?
Was fühlten Sie?“ Sie tritt so gerne breit.

So breit tritt sie die breitgelatschten Wege
So eng und dienstbeflissen ist ihr Blick
Zum letzten Dienstgespräch reicht er zurück
Zum letzten Lächeln ihres Chefs, zur Quotenpflege.

Und vor ihr liegt die Aussicht, ihren Namen
Genannt zu sehen und im Kreis zu sein
Der prominenten Medienherrn und –damen
Die da bestimmen über Sein und Schein.

So geht sie hin. Ihr Glauben ist ihr Wissen
Und zur Gesellschaft reicht ihr ihresgleichen.
Die größte Angst, im Meinen abzuweichen
Und – statt zu reden – etwas tun zu müssen.

Die größte Ermutigung: Ein Leben

Reich-RanickiMarcel Reich-Ranicki hat uns etwas unendlich Kostbares hinterlassen. Es heißt "Mein Leben". Es wiegt alle Milliarden aller Finanzmärkte dieser Welt auf – sie sind dagegen nur verbranntes Papiergeld. Der gleichnamige Film ist ein Juwel in den Müllhalden des deutschen Fernsehens. Er kann keinen Oskar bekommen – das wäre zu wenig. Ein einziger Dialogfetzen darin erklärt den Totalitarismus: "Warum tun sie das?" "Weil sie es können."

Heute war der Film aus dem Jahr 2009 – als Wiederholung und Nachruf anlässlich des Todes dieses Großen  in der ARD zu sehen. Ich würde gern jedem einzelnen Beteiligten sagen, wie dankbar ich für diesen Film bin: ein wunderbares, ermutigendes Zeugnis dafür, wie unentbehrlich Kultur in allen Konflikten der Zukunft sein wird – und wie sie dem Prinzip von Gewalt-Macht-Lust Grenzen setzt.

Ich habe die Autobiographie von Marcel Reich-Ranicki im Jahr 2000 auf dem Flug nach Bali gelesen – es war eine Wegscheide meines Lebens. Ich wurde 50, ich begann mit der Arbeit an “Babels Berg”. Bei all  meinen literarischen Bemühungen war dieser Kritiker eine der Stimmen, die hartnäckig nach der Qualität meiner Texte fragten und mich ermutigten.

Schade, dass ich mich mit ihm nicht anlegen durfte: Das wäre ein zu großes Geschenk gewesen. Aber wann immer, wo immer und mit wem immer ich über Literatur reden werde: Er wird dabei sein.

Brüchige Stimmen

abhauenNein: Literatur ist das nicht. Die beiden mit historischen Fotos bedruckten Taschenbücher zeigen ebenso wenig Ehrgeiz auf einen exponierten Platz im Bücherschrank wie ihre Autoren ihn auf Buchpreise haben dürften.

70Meter Angst

Diese Autorinnen und Autoren haben die Geschichte ihrer Konflikte erzählt, Jürgen Kleindienst und Ingrid Hantke vom Zeitgut Verlag haben sie behutsam zur Veröffentlichung vorbereitet, so dass die sehr unterschiedlichen Erzähler-Stimmen erhalten sind, von ihnen ragt keine heraus, fast alle prägen sich ein, keine mag ich einzeln bewerten, es sind Stimmen ihrer Zeit, wie sie auch Steven Spielberg der Nachwelt überliefern wollte, einige sind verstummt.

Hat jemals ein Abschnitt der deutschen Geschichte derart viele Protokolle, Zeugenberichte, literarische Versuche hinterlassen wie die Zeit zwischen der deutschen Teilung und der Gegenwart? Jedenfalls hat kein Genre auf sie verzichtet. Ich habe Feuilleton-Redakteure über die “Flut der DDR-Bewältigungstexte” stöhnen hören, wundere mich beinahe, dass ausgerechnet diese kunstlosen, sprachlich wenig originellen Erzählungen unter den Titeln “Abhauen oder hierbleiben? – Im Konflikt mit dem DDR-System. 1949 – 1961” und “Siebzig Meter Angst – Fluchtgeschichten aus der DDR. 1961 – 1989” mich durchweg interessierten. Die beiden Bändchen sind eine Auswahl aus einem vermutlich viel größeren Fonds, den der Verlag im Laufe der Jahre zusammengetragen hat, und daran hat er gut getan.

Diese Sammlung ist jedenfalls ein Beleg dafür, wie sich Macht, vermeintlich im Besitz wissenschaftlicher Wahrheit, darüber täuscht, was Menschen bewegt. Die Wahnvorstellung, unser Denken, Handeln, unser Glück und Leiden an Plänen ausrichten zu können, trifft auf eine Mannigfaltigkeit persönlicher Lebensentwürfe, an der sie scheitern muss. Manche dieser Entwürfe in den beiden hier vorgestellten Büchern sind mitleiderregend schlicht, viele liegen mir, dem Leser, fern. Einige haben Motive und Dimensionen die an Assange, Manning, Snowden erinnern. Aber nicht das verleiht den Erlebnisberichten ihren überzeitlichen Wert. Er liegt in Kräften, die Menschen unterschiedlichster Herkunft, Hautfarbe, Religion, Bildung unabhängig vom Geschlecht oder Lebensalter verbindet: sie wollen frei und selbstbestimmt über ihren Weg entscheiden, sie wollen ihn unter Schmerzen gehen oder leichtsinnig, von Zorn getrieben oder von der Liebe, von Einsichten oder weil sie einfach nicht wissen, dass Sprengminen Hackfleisch aus ihnen machen oder die Schussbereitschaft “bewaffneter Organe” mit anschließender Kremierung sie als Aschehäufchen zur Familie zurückbringen könnte. Fehlte ihnen die Phantasie über mögliche Folgen einer Flucht?

Was den Wert dieser Bücher ausmacht: Mehr als jede “Phantasy” zeigen sie die Phantasielosigkeit der Herrschenden, mehr als jeder noch so ambitionierte Krimi aus ewiggleichen Versatzstücken lassen sie einen spüren, dass wahres Leben immer und immer wieder nur das eigene ist, dass noch so Unterhaltsames, “spannungsvoll” Zurecht-Gemachtes meist nichts als den Ritualen ordnungsmächtiger Verblödung dient.

Nach Lektüre der beiden kargen Taschenbücher lasse ich mit mehr Bewusstsein alles links liegen, was auf gutes Feeling in der Vermarktungsgemeinschaft der Bestseller von Krimis, Horror, Phantasy, History, sonstigen Preisträgern im Dienste konformer Monokultur zielt oder – ganz einfach – all das, was unter der Last ihrer traurigen Existenz leidende Feuilletonredakteure für wichtig ausgeben.

“Abhauen oder hierbleiben? – Im Konflikt mit dem DDR-System. 1949 – 1961” und “Siebzig Meter Angst – Fluchtgeschichten aus der DDR. 1961 – 1989”, Zeitgut Verlag Berlin 2013, zusammen 13,80 €

 

Der unvermeidliche Vorgriff

Demnächst veröffentliche ich im Weblog zum Buch die überarbeitete Fassung von “Der menschliche Kosmos”, Kapitel 3, Darin spielt der Begriff der Antizipation eine wesentliche Rolle. Gemeint ist das seltsame, aber messbare Phänomen, dass Gehirn und Körper mit einer Handlung längst fertig sind, wenn wir darüber zu entscheiden meinen. Der Quantenphysiker Nils Bohr hat das anhand eines Duells mit Spielzeugpistolen seinen Mitarbeitern einmal veranschaulicht: Wer zuerst schoss, verlor meistens, wer nur reagierte – natürlich Bohr selbst – war schneller. Der Spaß ist inzwischen experimentell untermauert. Während der erste bewusst entscheiden musste, antizipierte der zweite die Aktion. Tennisspieler, Squasher und andere Ballspieler kennen das Phänomen unterm Schlagwort “Wer denkt, hat verloren”.

Die Antizipation ist schneller, aber auch mit mehr Fehlerrisiko behaftet, salopp gesprochen “quick and dirty”.

Wie unvermeidlich wir im Alltag antizipieren, also Urteile fällen und Entscheidungen treffen, ohne für komplexe Sachverhalte auch nur annährend vollständige Informationen zu haben, geschweige sie bewerten zu können, zeigt sich besonders, wenn wir Menschen einschätzen. Der “erste Eindruck” (“quick”) prägt unser nonverbales Verhalten augenblicklich. Begrüßungsrituale, Konventionen der kulturell geprägten “display rules” verhindern, dass es in der Folge “dirty” wird und zu schwer korrigierbaren Zusammenstößen kommt.

Bei Nietzsche findet sich dazu in “Menschliches Allzumenschliches” ein interessanter Artikel (32. Ungerechtsein notwendig):

Friedrich Nietzsche ca. 1875“Alle Urteile über den Wert des Lebens sind unlogisch entwickelt und deshalb ungerecht. Die Unreinheit des Urteils liegt erstens in der Art, wie das Material vorliegt, nämlich sehr unvollständig, zweitens in der Art, wie daraus die Summe gebildet wird, und drittens darin, dass jedes einzelne Stück des Materials wieder das Resultat unreinen Erkennens ist und zwar dies mit voller Notwendigkeit. Keine Erfahrung zum Beispiel über einen Menschen, stünde er uns auch noch so nah, kann vollständig sein, so dass wir ein logisches Recht zu einer Gesamtabschätzung desselben hätten; alle Schätzungen sind voreilig und müssen es sein. Endlich ist das Maß, womit wir messen, unser Wesen, keine unabänderliche Größe, wir haben Stimmungen und Schwankungen, und doch müssten wir uns selbst als ein festes Maß kennen, um das Verhältnis irgend einer Sache zu uns gerecht abzuschätzen. Vielleicht wird aus alledem folgen, dass man gar nicht urteilen sollte; wenn man aber nur leben könnte, ohne abzuschätzen, ohne Abneigung und Zuneigung zu haben! — denn alles Abgeneigtsein hängt mit einer Schätzung zusammen, ebenso alles Geneigtsein. Ein Trieb zu Etwas oder von Etwas weg, ohne ein Gefühl davon, dass man das Förderliche wolle, dem Schädlichen ausweiche, ein Trieb ohne eine Art von erkennender Abschätzung über den Wert des Zieles, existiert beim Menschen nicht. Wir sind von vornherein unlogische und daher ungerechte Wesen, und können dies erkennen: dies ist eine der größten und unauflösbarsten Disharmonien des Daseins.”

Schreibe, um zu überleben – Déjà-vu!

 

Es war 1985. Mein Versuch, ein Off-Theater in Ostberlin, damals Hauptstadt der DäDäÄrr zu gründen, war von der Behörde verboten worden.

Spinner, Staatsfeind – frei auf eigene Rechnung

Im Tagebuch vom 29. Juli steht:

"Das Gefühl ABSOLUTER SCHUTZLOSIGKEIT als einziger Beleg (und Preis) für moralische Integrität – wie lange hält man das aus?
Entsetzlich: dieses Verwundern der Leute, dass man nicht konform geht, dass man nicht bereit ist, den Preis für Wohlstand und Erfolg zu zahlen. Sie achten – respektieren – nur den ERFOLGREICHEN Künstler, nicht den Künstler. Sie nehmen, was sie zur Selbstbestätigung brauchen und bemerken nicht den Selbstbetrug. (Wie sich unsere Gesellschaft in ihren Elitekünstlern selbst betrügt). Was für eine Verantwortung für die wirklich Großen: Widerstand über jede Koketterie hinaus!”

Das ist – Kernfragen von Uwe Tellkamps "Turm", dem 2008 mit dem Deutschen Buchpreis bedachten Roman um 23 Jahre vorwegnehmend – ein Kommentar besonderer Art … Und dann fragt sich der nach Hinauswürfen und Verboten zur Untätigkeit Verurteilte, was bleibt:
"Das Wenige, das ich mir auferlege, ist meiner Angst geschuldet, …, die Konfrontation suchen, um nicht vereinnahmt zu werden, …, Leiden, um unempfindlich zu werden (wie unempfindlich bin ich schon?)."
Dann aber steht da mit roter Tinte:
"Verweigerung als die bequeme Möglichkeit, sein Teil Schuld nicht tragen zu müssen?"
Was für eine bizarre Frage angesichts der Tatsache, dass die an Brutalitäten und Rechtsbrüchen Schuldigen sich damals wie heute erfolgreich ihrer Verantwortung entziehen!

Tränen lügen nicht – oder doch

Der libysche UNO-Botschafter hat mit Zeichen emotionaler Bewegung vor seinen Kollegen öffentlich bekundet, dass Ghaddafi, gerade noch sein großer Führer und Geschäftspartner beim Ausplündern der Libyer, nicht länger sein Chef ist. Mir fiel angesichts der Krokodilgesichter, die bei dieser Gelegenheit in die Fernsehkameras glibberten, ein alter Text ein. Darin geht es um die unauflösliche Wertegemeinschaft zwischen Journalisten und Mächtigen. Sie wird immer mehr zur Herzensangelegenheit. “Marienhof” war gestern. Die ganze Welt ist eine einzige Dokusoap.

Nichts beweist die Nähe zwischen den Politikern unseres Landes und dem gemeinen Volke eindringlicher, als die herzlichen Gefühle, die wir alle dank der Massenmedien miteinander teilen dürfen. In einer Sternstunde des Journalismus – leider weiß niemand mehr genau, wer erleuchtet wurde und wann – ward die Leitidee geboren „Gehet hin mit euren Notizblöcken, Mikrofonen und Kameras und erfragt vor allem eines von euren Interviewpartnern: was empfanden sie, als… (die Punkte sind durch erlittene Geiselnahmen, Lottogewinne, Scheidungsurteile oder Wahlniederlagen zu ersetzen) “.

Von da an durften Politiker hoffen, nicht länger entweder als dröge Faktenhuber oder Opfer böswilliger Karikaturen („Birne“, „Ziege“, „rote Heidi“, „Genschman“ etc.) herhalten zu müssen, sondern in ihrer ganzen liebenswerten Menschlichkeit zu wirken, namentlich auf Bildschirmen. Recht eigentlich können wir nun von Mediendemokratie sprechen, denn Maßstab öffentlicher Auftritte sind allein menschliche Gefühle. Nicht länger verschließt sich kühl formuliertes Herrschaftswissen dem Verständnis des Publikums: endlich kann sich jeder Mann, jede Frau, ja jedes Kind kompetent fühlen, über Ziele und Motive der Regierenden sachkundig zu urteilen, denn es geht um Psychologie. Genauer: um jene Äußerungen von Schmerz, Trauer, Zorn und – sagen wir es ruhig: Betroffenheit!, deren Dynamik unser aller Leben bewegt.

Was vor mehr als zweihundert Jahren vom Schweizer Pastor Lavater und unserem großen Goethe mit den „Physiognomischen Fragmenten zur Beförderung von Menschenkenntnis und Menschenliebe“ begonnen wurde – die Massenmedien und vornehmlich das Fernsehen bringen es zur Vollendung: jeder Mensch ist Psychologe! Und so entscheidet er über das Schicksal des Gemeinwesens mit, indem er seine in der „Lindenstraße“ und bei „Big Brother“ erworbene Fähigkeit nutzt, Sympathische von Unsympathischen zu scheiden und Urteile über jemandes Glaubwürdigkeit sowie seine Tugenden und Laster zu sprechen. Und dann schreitet er zur Wahlurne.

So durften wir erleben, wie gut es auch unseren Politiker zu Gesicht steht, sich in fein differenzierter Menschenbeobachtung zu üben. Hat doch nach einer Sitzung des parlamentarischen Untersuchungsausschusses in der CDU- Spendenaffäre Herr Ströbele, Abgeordneter der Grünen, die von Frau Baumeister vergossenen Tränen in die Waagschale der Glaubwürdigkeit geworfen. Sie neigte sich daraufhin zu Ungunsten von Wolfgang Schäuble. Ströbele ist uns nicht länger fremd. Voller Spannung erleben wir, wie aus einer Affäre eine Herzensaffäre wird. Wir nehmen uns vor, unsere Abgeordneten, Minister und Beamten, selbst Kanzler, Kanzlerinnen und Bundespräsidenten künftighin mit anderen Augen zu sehen: so wie Hansemann, Mutter Beimer oder die Punchingbälle von Dieter Bohlen und Heidi Klum.

Manchmal beschleicht mich allerdings der Verdacht, dass es längst Beraterverträge, dass es gar ein Kartell geben könnte. Schließlich beschäftigen viele Manager Schauspiellehrer, um ihre „Performance“ zu verbessern. Und dann frage ich mich: ist das jetzt noch gute, echte Seifenoper oder schon böse, verlogene Politik?

Eintrag im Gipfelbuch von „Babels Berg“

Die Germanistin Dominique Wendland-Stindel kennt sich, da sie aus Frankreich kommt, in der deutschen wie französischen Literatur aus; unser Gedankenaustausch bei „Leben Lesen“ und im freundschaftlichen Kreis ist äußerst anregend. Aus ihrer Feder hätte ich auch scharfe Kritik zu meinen Romanen dankbar entgegen genommen. Umso mehr hat mich gefreut, dass sie „Babels Berg“ mit Vergnügen gelesen hat.
Soviel sei nur verraten : Sennewalds „Babels Berg“ ist viel, viel mehr als die (erwartete) Schilderung einer Jugend in der DDR der 60er und 70er Jahre. Es sind die beispielhaften, mal umwerfend komischen, mal bedrückenden, aber immer mitreißenden Lehrjahre eines neuartigen Candide namens Gustav Horbel. Er, der Physikstudent in Ostberlin, ist Zeuge und Akteur einer Fülle von Ereignissen und Entwicklungen, die ihn – und uns Leser – manchmal bis zu der Frage bringen könnten, ob die Welt ( nun ja, die damalige … ) doch nicht etwa eine Scheibe sein könnte. Eine sich ewig drehende oder ins Unendliche fliegende, versteht sich.

Mit welcher Chuzpe der Physiker Sennewald für den Augenblick eines folgenschweren Diskuswurfs die Naturgesetze ausser Kraft setzt, ist eines Mikhail Bulgakow oder eines Georges Méliès würdig. Und auch der „Überhorbel“ als freudscher Schutzengel sei hier erwähnt als ein Beispiel für die vielen augenzwinkernden Jubelmomente, die den Leser reichlich belohnen.

Sollte ein Kinoliebhaber – etwa aufgrund des Titels – einen Rückblick auf die berühmte Potsdamer Filmfabrik erwarten, so wird er hier Anderes, aber auch viel Besseres finden – nämlich ein filmreifes Drehbuch in der Gestalt eines sprachlich eleganten Romans : verblüffende Bildmetaphern, spritzige Dialoge, skurrile bis hinreißende Akteure, einen temporeichen Szenenwechsel, einen hintergründigen, niemals menschenverachtenden Humor. Dem Autor ist ein erstaunlicher Grenzgang , nicht nur zwischen Ost und West, sondern zwischen Fiktion und Realität, Dichtung und Naturwissenschaft, Satire und Information glänzend gelungen. Diese fulminante “ Raumzeitreise“ durch Ost- und Westberlin um 1970 – und weit darüber hinaus – ist eine große Lesefreude, die ich jedem empfehlen kann.