Ideen beim Aufräumen des Kellers

Von Wahlen ist andauernd die Rede, Umfragen und Prognosen sind allgegenwärtig in den Medien, auch wenn es noch ein Jahr oder länger dauern kann, ehe einer wieder aufgefordert ist, seine Stimme abzugeben. Das ist schon lästig genug, schlimmer wird es, wenn Wahlplakate auftauchen. Sie fordern dazu auf, sämtliche schlechten Erfahrungen mit Parteien zu vergessen und zu glauben. Woran? An Versprechen, die so schwammig, irrational und unglaubwürdig sind, dass sie schon von Weitem stinken. Gestern fielen mir bei einer ungeliebten aber nützlichen Arbeit ein, welchen Reim ich mir darauf machen könnte, um mich weniger zu ärgern.

Wahlversprechen

Wenn‘s im Keller schimmlig müffelt
könnte es geboten sein
man schaut dort in Ecken rein
wo von Flaschen, ausgesüffelt
noch Kartons ihr Dasein fristen
die uns einstmals, bunt und fein
sagten, was wir trinken müssten
um von Herzen froh zu sein.

Solche Reste riechen übel
wie Erinnerung an Wahlen
als ich einstmals unter Qualen
bombardiert mit Wachstumszahlen
leicht beschwipst von den Versprechen
mich entschloss, den Schwur zu brechen
nimmermehr daran zu glauben
dass – ob Falken oder Tauben –
der Gewählten einzig Ziel
nicht sei: Wähl mich – und schweig still.

In der Stille fault sodann
was man nur noch ändern kann
wenn man hart und ohne Säumen
ausräumt, was statt bunten Träumen
Moder und Verfall gebar.
Merke: Über falsch und wahr
frage nicht die Emballage
Prüf den Inhalt, hab Courage.
Was dir imponieren will
allzu oft ist‘s nichts als Müll.

Werbung

Heimatabend zwischen Thüringer und Schwarzwald

Zwei Abende – zwei gegensätzliche Erfahrungen: Beim Literaturabend “40 Jahre deutsch-deutsche Geschichte im Roman” im Heimatmuseum Gaggenau-Michelbach am 18.11. war’s voll, es wurde ein Abend mit gespannt und aufmerksam lauschenden, interessiert fragenden Zuhörern; zum “Loffenauer Bücherfest” am 19.11. dagegen kam – niemand.

Die engagierte junge Frau, auf deren Einladung hin wir “Leben Lesen” zum ersten Mal außerhalb von Baden-Baden veranstaltet haben, war ratlos, aber ich musste zugeben, dass wir den Titel ungeschickt gewählt hatten. Es sollte bei der literarischen Jamsession ja eigentlich nicht um Helden von einst, sondern um die Helden von heute gehen – und erst in zweiter Linie um Romantik.

Hat Herr von Guttenberg das Zeug zum Helden? Brauchen wir überhaupt irgendwelche Kraftkerle? Brauchen wir nicht vielmehr Persönlichkeiten, die ohne das Pathos von Weltveränderern zur richtigen Zeit das Richtige tun – z.B. ein Flugzeug auf dem Hudson notwassern oder Schlägern Einhalt gebieten?

Bürgersinn und Zivilcourage statt hehrer Ideale und lautstarker Transparente: das wäre ein Thema gewesen – oder?

Liebe Freundinnen, Miterzähler und Zuhörer von “Leben Lesen”: lassen Sie uns wissen, ob Sie das auch so sehen, oder was Sie stattdessen interessant genug fürs nächste Treffen von “Leben Lesen” finden.

Medienglocke

Wie’s die Arbeit am „Raketenschirm“ mit sich bringt, tauchen Tagebuchnotizen und Gedichte aus jener Zeit auf, da an Publikation nicht zu denken war. Dem folgenden eignet ein Hauch Aktualität …
(24.3.1986)

Die große Medienglocke dröhnt
feilgeil, geilfeil, feilgeil, geilfeil
unsere Münder stumm aufzu
kein Laut gegens Gedröhn
die Bewegung selbst schon im Rhythmus
in uns der leise Zynismus
subkutane Ideologie: gib zu deine Ohnmacht
Beweis deines Unrechts
du bist allein.
Millionen Fliegen steigen auf gesättigt
matt Scheiben glänzen Augurengesichter
die Glocke tönt besinnungslos
tonlos der Schrei der Vernunft.

Biedermeier

“Franzosen und Russen gehört das Land

das Meer gehört den Briten

Wir Deutschen besitzen im Luftreich des Traums

die Herrschaft unbestritten.”

(Heinrich Heine)

August_von_Kotzebue

Auf diesem Bild ist nicht Heinrich Heine zu sehen, sondern ein anderer Dichter. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein war er der bedeutendste Theaterautor, der meistgespielte, und das heißt nicht nur auf deutschen Bühnen, sondern in zahllosen Familien- und Amateuraufführungen. Das Medium Theater hatte noch keine Konkurrenz von Film und Fernsehen.

August von Kotzebue – das weiß noch jeder mit vollendeter Halbbildung – starb bei einem Attentat. Er galt vielen als Spion des russischen Zaren und Feind des neudeutschen Patriotismus. Er war keiner. Er war eher ein Anhänger des häuslichen Friedens und der moralimprägnierten Harmonie zwischen allen Völkern und Rassen.

Dem Attentäter war’s egal, er war jung, er sah sich im Besitz des höheren moralischen Auftrags, er war bewaffnet.

Man könnte sich in etwa vorstellen, dass Richard Gere von einem Al Qaida-Helden weggesprengt würde. Als Rache für Osama Bin Laden.

Seltsamerweise käme heute wie damals heraus, dass das Ergebnis für die vom Attentäter vertretene politische Richtung so nützlich ist, wie für den Fortschritt der Demokratie und Kultur insgesamt: verschärfte Sicherheitsgesetze, Generalverdacht gegen jede fremde Herkunft bzw. abweichende Meinung bei noch mehr Leuten; liberale und kritische Geister erfreuen sich des Misstrauens der Masse wie der Obrigkeit und der deutsche Michel richtet sich auf Jahrzehnte – just so wie im Biedermeier – in seiner Spießeridylle ein, von wo aus er dem Rest der Welt genauestens erklärt, dass freilich der Mord am Filmstar ein Ärgernis sei, der Ermordete aber durch sein buddhistisches Bekenntnis der Tat Vorschub geleistet habe. Der Islam sei einmal kriegerisch, die Amerikaner allgemein unbeliebt, nun möge man es gut sein lassen, künftig still und eingezogen leben, wie’s deutsche Art ist.

Die Ablehnung neuer Technologien war seinerzeit ebenso verbreitet wie heute bei einem großen Teil der Bevölkerung. Man muss leider sagen, dass geldgierige Unternehmer sich darum nicht scherten. Vor allem im Ausland nicht, das steckte einige vaterlandslose Gesellen an. Viele Juden übrigens. Die Deutschen fanden das umoralisch, führten einige Kriege, um die Welt an der deutschen Moral genesen zu lassen – anscheinend stecken ihnen die Niederlagen in den Knochen. Die Aufgaben werden nicht kleiner: die Chinesen müssen von ihrer Kernkraft abgebracht, die Amerikaner sowieso geläutert werden.

Vorwärts zur Sonne, zur Freiheit: von fossilen Energieträgern, AKW und amerikanischem Imperialismus! Klar! Aber wozu die moralisch sauberen Deutschen die Welt befreien wollen – zu welcher Art des Zusammenlebens – davor ist mir ziemlich unheimlich.

Schreibe, um zu überleben – Déjà-vu!

 

Es war 1985. Mein Versuch, ein Off-Theater in Ostberlin, damals Hauptstadt der DäDäÄrr zu gründen, war von der Behörde verboten worden.

Spinner, Staatsfeind – frei auf eigene Rechnung

Im Tagebuch vom 29. Juli steht:

"Das Gefühl ABSOLUTER SCHUTZLOSIGKEIT als einziger Beleg (und Preis) für moralische Integrität – wie lange hält man das aus?
Entsetzlich: dieses Verwundern der Leute, dass man nicht konform geht, dass man nicht bereit ist, den Preis für Wohlstand und Erfolg zu zahlen. Sie achten – respektieren – nur den ERFOLGREICHEN Künstler, nicht den Künstler. Sie nehmen, was sie zur Selbstbestätigung brauchen und bemerken nicht den Selbstbetrug. (Wie sich unsere Gesellschaft in ihren Elitekünstlern selbst betrügt). Was für eine Verantwortung für die wirklich Großen: Widerstand über jede Koketterie hinaus!”

Das ist – Kernfragen von Uwe Tellkamps "Turm", dem 2008 mit dem Deutschen Buchpreis bedachten Roman um 23 Jahre vorwegnehmend – ein Kommentar besonderer Art … Und dann fragt sich der nach Hinauswürfen und Verboten zur Untätigkeit Verurteilte, was bleibt:
"Das Wenige, das ich mir auferlege, ist meiner Angst geschuldet, …, die Konfrontation suchen, um nicht vereinnahmt zu werden, …, Leiden, um unempfindlich zu werden (wie unempfindlich bin ich schon?)."
Dann aber steht da mit roter Tinte:
"Verweigerung als die bequeme Möglichkeit, sein Teil Schuld nicht tragen zu müssen?"
Was für eine bizarre Frage angesichts der Tatsache, dass die an Brutalitäten und Rechtsbrüchen Schuldigen sich damals wie heute erfolgreich ihrer Verantwortung entziehen!

Tränen lügen nicht – oder doch

Der libysche UNO-Botschafter hat mit Zeichen emotionaler Bewegung vor seinen Kollegen öffentlich bekundet, dass Ghaddafi, gerade noch sein großer Führer und Geschäftspartner beim Ausplündern der Libyer, nicht länger sein Chef ist. Mir fiel angesichts der Krokodilgesichter, die bei dieser Gelegenheit in die Fernsehkameras glibberten, ein alter Text ein. Darin geht es um die unauflösliche Wertegemeinschaft zwischen Journalisten und Mächtigen. Sie wird immer mehr zur Herzensangelegenheit. “Marienhof” war gestern. Die ganze Welt ist eine einzige Dokusoap.

Nichts beweist die Nähe zwischen den Politikern unseres Landes und dem gemeinen Volke eindringlicher, als die herzlichen Gefühle, die wir alle dank der Massenmedien miteinander teilen dürfen. In einer Sternstunde des Journalismus – leider weiß niemand mehr genau, wer erleuchtet wurde und wann – ward die Leitidee geboren „Gehet hin mit euren Notizblöcken, Mikrofonen und Kameras und erfragt vor allem eines von euren Interviewpartnern: was empfanden sie, als… (die Punkte sind durch erlittene Geiselnahmen, Lottogewinne, Scheidungsurteile oder Wahlniederlagen zu ersetzen) “.

Von da an durften Politiker hoffen, nicht länger entweder als dröge Faktenhuber oder Opfer böswilliger Karikaturen („Birne“, „Ziege“, „rote Heidi“, „Genschman“ etc.) herhalten zu müssen, sondern in ihrer ganzen liebenswerten Menschlichkeit zu wirken, namentlich auf Bildschirmen. Recht eigentlich können wir nun von Mediendemokratie sprechen, denn Maßstab öffentlicher Auftritte sind allein menschliche Gefühle. Nicht länger verschließt sich kühl formuliertes Herrschaftswissen dem Verständnis des Publikums: endlich kann sich jeder Mann, jede Frau, ja jedes Kind kompetent fühlen, über Ziele und Motive der Regierenden sachkundig zu urteilen, denn es geht um Psychologie. Genauer: um jene Äußerungen von Schmerz, Trauer, Zorn und – sagen wir es ruhig: Betroffenheit!, deren Dynamik unser aller Leben bewegt.

Was vor mehr als zweihundert Jahren vom Schweizer Pastor Lavater und unserem großen Goethe mit den „Physiognomischen Fragmenten zur Beförderung von Menschenkenntnis und Menschenliebe“ begonnen wurde – die Massenmedien und vornehmlich das Fernsehen bringen es zur Vollendung: jeder Mensch ist Psychologe! Und so entscheidet er über das Schicksal des Gemeinwesens mit, indem er seine in der „Lindenstraße“ und bei „Big Brother“ erworbene Fähigkeit nutzt, Sympathische von Unsympathischen zu scheiden und Urteile über jemandes Glaubwürdigkeit sowie seine Tugenden und Laster zu sprechen. Und dann schreitet er zur Wahlurne.

So durften wir erleben, wie gut es auch unseren Politiker zu Gesicht steht, sich in fein differenzierter Menschenbeobachtung zu üben. Hat doch nach einer Sitzung des parlamentarischen Untersuchungsausschusses in der CDU- Spendenaffäre Herr Ströbele, Abgeordneter der Grünen, die von Frau Baumeister vergossenen Tränen in die Waagschale der Glaubwürdigkeit geworfen. Sie neigte sich daraufhin zu Ungunsten von Wolfgang Schäuble. Ströbele ist uns nicht länger fremd. Voller Spannung erleben wir, wie aus einer Affäre eine Herzensaffäre wird. Wir nehmen uns vor, unsere Abgeordneten, Minister und Beamten, selbst Kanzler, Kanzlerinnen und Bundespräsidenten künftighin mit anderen Augen zu sehen: so wie Hansemann, Mutter Beimer oder die Punchingbälle von Dieter Bohlen und Heidi Klum.

Manchmal beschleicht mich allerdings der Verdacht, dass es längst Beraterverträge, dass es gar ein Kartell geben könnte. Schließlich beschäftigen viele Manager Schauspiellehrer, um ihre „Performance“ zu verbessern. Und dann frage ich mich: ist das jetzt noch gute, echte Seifenoper oder schon böse, verlogene Politik?

Der Wohlstandsmüll, die Menschen und Hartz IV

Das politische Spektakel um die sogenannten Hartz-IV-Gesetze nimmt kein Ende, eigentlich sollte dem Mann, dessen Name Sozialgeschichte schreibt, ein Denkmal gesetzt werden. Finanzieren werden es die Nutznießer der Fürsorgeindustrie: Rechtsanwälte, Journalisten, Politiker, Funktionäre, deren Weizen auf dem Mist deutscher Sozialgesetzgebung blüht wie nie zuvor.

Kein Grund eigentlich auch für alle anderen, über den Sozialstaat zu klagen – er gehört immer noch zu den leidlich intakten dieser Welt, jedenfalls wenn wir auf die Gelder schauen, die für Personal, Ausstattung, Versorgung mit Medikamenten und Hilfsmitteln, Kontrollen und Überwachung fließen. Geld ist auch gar nicht das Problem; selbst wenn ein Vielfaches in das System investiert würde, milderte es nicht Armut und Elend. Im Gegenteil: indem wir ausschließlich übers Geld verhandeln, mit dem eben jene Nutznießer der Fürsorgeindustrie gefüttert werden, übersehen wir das eigentliche Elend, dem mit der Delegierung an einschlägige Geldmaschinen eben nicht beizukommen ist. Die Rede ist von schreiender Armut an sozialer Grundbildung und einer Verelendung der Kultur infolge besinnungsloser Überflutung mit Medienmüll. Wir dürfen ohne zu übertreiben die mediale Landschaft als Müllhalde sehen, an der Produzenten und Verwerter prächtig verdienen, während eine wachsende Zahl von Menschen sich der Verwertung stinkender Reste hingeben. Das erspart ihnen die Mühsal einer weiterführenden Bildung, die andererseits sind der Verantwortung ledig, mehr für das Fortkommen der Randexistenzen tun zu müssen; sie schlafen sehr ruhig, da Müllfresser in ihrem persönlichen Umfeld nur ausnahmsweise auftauchen.

Sie halten mir entgegen, Slums neben Müllkippen gebe es nicht in Deutschland? Vielleicht nicht die Slums neben echten Mülldeponien wie in Asien oder Afrika. (Dorthin entsorgen wir ganz gern gefährliche Wohlstandsabfälle). Aber ist es übertrieben zu sagen, dass Deponien hierzulande besser gegen Giftmüll und Ausbrüche gesundheitsgefährdender Stoffe gesichert sind, als Kinderzimmer und Altenheime gegen das schleichende Gift der Gefühlskälte, gegen das Ausbrechen asozialer Gier nach Macht und Geld, einschließlich Lust an der sadistischen Vorführung von Gewalt, Prangerritualen und anderen Formen der Demütigung?

Welches Verhalten erleben Kinder als vorbildhaft und welche werden dadurch bei ihnen ausgebildet? Die des prügelnden, am Lebenslimit vegetierenden Proletariers dürfen wir wohl dem Reich historischer oder geografischer Erzählung zurechnen – je düsterer die Farben, in denen Medien, Pädagogen, Politiker sie malen, desto paradiesischer leuchtet der eigene Herrschaftsbereich. Nein. Fast alle Kinder – egal ob aus der “Elite” oder dem “Hartz-IV-Reich” – erleben durchsetzungsstarke Rechthaber und Anspruchswahrer als erfolgreich. Nur ausnahmsweise machen sie im familiären Umfeld die Erfahrung, dass Teilen, Helfen, Verzicht auf kurzfristigen Vorteil, mutiges Eintreten für eigene Meinung und das Recht des Schwächeren belohnt werden. Das gilt für Kindergärten und Schulen nicht minder. Der Medienmüll à la “Dschungelcamp” wuchert auch auf den Pausenhöfen der bestgeführten Anstalten, und die Pausenhöfe sind wesentlicher Trainingsplatz des Sozialverhaltens; die Klassenzimmer sind es oft nur insofern, als dort überforderte Pädagogen ihr angestelltes Dasein für die Jugend zum Spicken im Internet freigeben.

Langsam wird klar, dass diese Form von Erziehung und Bildung uns machen könnte. Wir fürchten uns davor, hilfsbedürftig zu werden. Wir glauben dennoch hartnäckig weiter daran, letztlich alle Probleme mit Geld lösen zu können. Deshalb zahlen wir für Versicherungen. Sie sollen uns unabhängig machen von den Unwägbarkeiten des Lebens, von Konflikten in der Familie, mit dem Arbeitgeber, von Unfällen, Krankheiten, Naturkatastrophen. Wir sind so damit beschäftigt, das Geld für diese Unabhängigkeit zu verdienen, dass wir nicht merken, wenn uns am Ende niemand mehr braucht, dann nämlich, in der Welt leistungsorientierter, abrechenbarer, durchorganisierter Routinen und Rituale, wenn die Durchsetzungsstarken uns nicht mehr als potente Kunden sehen, sondern an uns Geld nur mehr zu verdienen ist, indem man uns – satt und sauber – ruhig stellt. Dafür kommt die Versicherung auf, die wir mehr oder weniger teuer bezahlt haben. Wir haben uns selber abgeschafft, während wir uns abschafften – jedenfalls als Persönlichkeiten. Persönlichkeiten leben nämlich von sozialem Umfeld, von , zu denen durchaus Konflikte gehören, allerdings auch die Fähigkeit, sie auszuhalten und – widerständig oder kooperativ – zu überwinden. Geld braucht einer dafür nicht, Vorbilder schon. Die geeignete Bildung ist das Training einer – für geringeren Einsatz ist Persönlichkeit nicht zu haben, für Geld gar nicht. Wo aber Persönlichkeit und personalisiertes Umfeld fehlen, also fast überall in der Arbeitswelt der Geldmaschinen, bleiben nur Versorgungsfälle.

In den vergangenen Jahren lasen, hörten, sahen wir immer wieder ; Reportagen oder Insiderprotokolle von schauderhaften Verhältnissen waren das, Geschichten von Übergriffen gegen wehrlose Patienten, von Gewalt und elendem Siechtum, von einsamem Absterben in sterilen oder verwahrlosten Häusern, wo überfordertes, unterbezahltes Personal menschliche Zuwendung durch forsche Sprüche und gnadenlose Routine ersetzt. Man mochte es nicht mehr lesen, hoffte zugleich inständig, dank eigenen familiären Rückhalts oder hinreichender finanzieller Vorsorge nicht auf einer solchen geordneten Deponie zu enden.

Da die Kinder längst im selben Tretrad des Sich-unabhängig-Machens mindestens ein Drittel ihres Lebens zubringen, also mit ihrer eigenen Entsorgung beschäftigt sind, haben sie natürlich keine Zeit, leidende Eltern zu betreuen, Dasselbe gilt – in unterschiedlich an Gewissensnöte gekoppelter Form – für Enkel, Geschwister, Freunde, Kollegen, … kurz: die ganze menschliche Umgebung. Jeder einzelne und alle zusammen wären mit der Pflege eines Dementen überfordert. Klar. Und deshalb sterben sehr, sehr viele von uns satt und sauber, aber sehr einsam.

Es fehlt uns an menschlicher Zuwendung, nicht an elektronisch gesteuerten Rollstühlen, Hör- und Sehhilfen, Prothesen, barrierefreien Internetseiten. Es fehlt uns an nachhaltigem, verlässlichem Zusammenhalt. Die sind unbezahlbar, um die muss man sich lebenslang selber bemühen, indem man Gefühlsbindungen wichtiger nimmt als Sachwerte, Rituale der Vertrautheit wichtiger als Höchstleistungen. Ein Heimaufenthalt wird dann immer noch nicht schön, aber man erhält bestimmt Besuch, der einen im Rollstuhl herumfährt, einen umarmt, bei den Händen hält, mit einem redet. Für das letzte Quäntchen eigenen Vermögens (also der Fähigkeiten, nicht des Geldes) findet sich in jedem Heim noch eine erfüllende Aufgabe, auf die man trainiert ist: die einen von Sachen unabhängig macht, nicht von Menschen. Vielleicht ändern sich dann sogar die Heime.

Großmutter 1989

Uneitles Vorbild, Erzieherin für drei Generationen, 86 Jahre alt

Siegertyp

Aus einer Annonce in der „B.Z.am Abend“, Ostberlin Ende August 1985:

„Achtung! Torsten, 22/182, dkl.-blond, s. sportl., s. schlk., ehemal. Leistungssportler (Leichtathlet), m.-l. WA [bedeutet marxistisch-leninistische Weltanschauung – I.S.], künftiger Schauspielstudent, selbst., aufrichtiger, s. feinfühliger, expressiver romantischer Berliner, recht unkompliziert, unbed. zuverlässig, ehrlich, s. humorvoll, unabhängig, unternehmungslustig, willensfest! – sucht s. freundschaftl., zuverläss. u. sympathischen, soliden, gleichinteressiernden, persönl. wietumfassenden Briefwechsel(zwichen Anfang/Mitte 20 bis Mitte/Ende 30jährig bevorzugt!) – Interessen: Leichtathletik, Wassersport, Tennis, Reiten, Medizin, militär. Berufe, klassische und rockige moderne Musik, zudem besonders Theater/Film, Kino, Kunst, gute Bücher, Porträtfotogr., Fotografik, Natur, Reisen/Autotouristik u.v.a.m. Warte auf ernstgemeinte, aussagekräftige Antwort, (Chiffre … )“

Wer hätte da nicht zugreifen wollen – bei so einem makellos perfekten Romeo aus der Kaderschmiede … Sowas gab’s nur im „real existierenden Sozialismus“.

Ende der Depression

Titel des Buches von Noe

Wegzeichen der Philosophie


Manchmal scheint einem, als fielen die wichtigen Publikationen über einen her – genau dann, wenn man ihrer am meisten bedarf.
Ein Auftrag zu einem Feature von einer Redakteurin des SWR war mit dem Hinweis auf Alva Noes „Du bist nicht Dein Gehirn“ verbunden; das Buch erwies sich als hochintelligente Fortführung philosophischer Diskurse, die sowohl in „Der menschliche Kosmos“ Denkanstöße sind, wie auch als Gedankenexperimente in „Babels Berg“ auftauchen, wo der Physiker Anton Fürbringer ihnen nachgeht.
Dann kam vom Verlag als Rezensionsexemplar Ines Geipels „Seelenriss“ ins Haus. Die Stärke dieser Autorin ist, Geschichte und die strukturierenden Muster von Sozialverhalten in lebendiges Miterleben zurückzuführen; ihre Berichte von der „Volkskrankheit Depression“, deren pandemisches Wachstum jede Schweine- oder Vogelgrippe zum Hühnerauge der Medizinhistorie schrumpft, sind packende Beweise für die Auffassung „Der Körper in seiner unablässigen, untrennbaren Interaktion mit der Welt ist die Seele“. Ja. Und Krankheiten der Seele sind Krankheiten der Welt.
Buchcover

Mehr als ein Thema für die Pharmaforschung

Ein Moment des Gedenkens

Porträtfoto auf ZDF.de

Foto heute auf der ZDF-Seite


Bärbel Bohley, eine Frau mit Mut und Herz, Oppositionelle gegen SED und Stasi, niemals zu vereinnahmen durch Mainstream-Konformismus, hilfsbereit und empfindsam, ist heute morgen gestorben. Wir werden an sie denken.