Die Lust am Quälen und die Widerstandskraft der Banane gegen die Frage “Warum”

Dies ist eine Leseprobe zur Neufassung von “Der menschliche Kosmos” – Kapitel 1.

Emscher in Recklinghausen

Die Emscher bei Recklinghausen  im Januar 2005 (Foto: Stahlkocher in der Wikimedia CC 3.0)

Beginnen wir die Entdeckungsreise in Nachbars Garten an der „Köttelbecke„, also einem der offenen Abwasserkanäle des Emschersystems im Ruhrgebiet. Die kleinen Gärten hinterm Reihenhaus sind in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts so typisch wie die im Sommer oft übel riechenden Betonrinnen für Abwässer quer durch die Siedlung; sie können wegen der vom Bergbau verursachten Erdbewegungen nicht unterirdisch verlegt werden. Unsere Nachbarn, ein Ehepaar von etwa sechzig Jahren, sind trotzdem fast immer in ihrem Gärtchen. Sie haben sich sogar einen kleinen runden Pavillon mit grünen Fensterscheiben gebaut, obwohl es vom Liegestuhl nur ein paar Schritte ins Haus sind. Wir wunderten uns anfangs, wieso jemand sich in einem Gartenhaus grüne Gardinen vor die Fenster hängt, bis wir bemerkten, dass es weiße Stores hinter grünen Scheiben waren, die uns befremdeten. Ebenso befremdlich erschien uns, dass im Pavillon, den aufzubauen einiges Geld und gute zwei Wochenenden handwerklicher Arbeit gekostet hatte, offensichtlich nur Gartenmöbel untergestellt wurden. Auch dieses Rätsel löste sich: der Pavillon beherbergt etwas viel Kostbareres. Dort steht – in Reichweite, nicht etwa in der einige Gehminuten entfernten Küche – der Kühlschrank, und im Kühlschrank ist das Bier.
Es ist für unsere Nachbarn so wichtig, das Bier in der Nähe zu haben, weil sie sich fast immer streiten. Sie reden ausdauernd aufeinander ein und die wellenförmig aufbrandenden Gespräche gipfeln in beleidigenden Worten. Ein solcher Zyklus der Aufregung läuft aber nicht synchron mit dem Leeren einer Bierflasche ab. Wir haben noch nicht herausgefunden, wer von beiden mehr und schneller trinkt, aber einerlei: es käme anscheinend einem Koitus Interruptus gleich, wenn eine besonders heftige Attacke wegen einer leeren Flasche, eines dann also erforderlichen Ganges in die Küche unterbrochen werden müsste. Tatsächlich ist der Kühlschrank im Pavillon mit den grünen Fensterscheiben Teil eines ebenso detailliert wie unbewusst inszenierten und mit nicht nachlassender Energie aufgeführten Dramas.
Die beiden quälen einander mit Hingabe, sie genießen Bier und Beschimpfungen gleichermaßen (die Texte variieren nur wenig), sie haben an Schwung und Emotionalität nie eingebüßt. Es ist sinnlos, Gründe für das Gezänk finden zu wollen. Nicht einmal Anlässe lassen sich erkennen – außer dass die Sonne scheint und Bier im Kühlschrank ist.
Wenn wir den zu uns über den Zaun herüber wehenden Sprachfetzen vertrauen können, währt ihre Beziehung trotz dauernder Konflikte an der Grenze zur Gewalttätigkeit schon 40 Jahre. Wir beginnen zu verstehen, dass Mann und Frau nicht um Gründe von Ärgernissen streiten, die auszuräumen wären. Sie streiten schon gar nicht um Veränderungen ihrer Umgangsformen miteinander. Bei all der wiederkehrenden Aufregung, all dem Reden und Gestikulieren, während sie sich gegenseitig aufreizen und ankeifen, geht es im Gegenteil darum, dass sich NICHTS verändern soll, sondern dass jeder immer wieder aufs Neue seine Rolle, seine Wahrnehmung von sich selbst gegen den anderen verteidigt. Es handelt sich um eine Dynamik, deren Ziel das Gleichgewicht ist. Und genau deshalb, wegen dieser zum Ritual gewordenen Dynamik, unterscheiden sich die Konflikte unserer Nachbarn nicht von den Konflikten zwischen Parteien, Völkerstämmen, Nationen, religiösen Gemeinschaften. Dort allerdings kann ein Gewaltausbruch Schlimmeres bewirken als ein blaues Auge und ein paar zerschlagene Bierflaschen.

Ein Leben als Angestellter schützt nicht gegen solche Konflikte. Aber sicher ist sicher – oder? Das Kapitel 2 „Die Erfindung des Angestellten“ denkt darüber nach.

Werbung

Biedermeier

“Franzosen und Russen gehört das Land

das Meer gehört den Briten

Wir Deutschen besitzen im Luftreich des Traums

die Herrschaft unbestritten.”

(Heinrich Heine)

August_von_Kotzebue

Auf diesem Bild ist nicht Heinrich Heine zu sehen, sondern ein anderer Dichter. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein war er der bedeutendste Theaterautor, der meistgespielte, und das heißt nicht nur auf deutschen Bühnen, sondern in zahllosen Familien- und Amateuraufführungen. Das Medium Theater hatte noch keine Konkurrenz von Film und Fernsehen.

August von Kotzebue – das weiß noch jeder mit vollendeter Halbbildung – starb bei einem Attentat. Er galt vielen als Spion des russischen Zaren und Feind des neudeutschen Patriotismus. Er war keiner. Er war eher ein Anhänger des häuslichen Friedens und der moralimprägnierten Harmonie zwischen allen Völkern und Rassen.

Dem Attentäter war’s egal, er war jung, er sah sich im Besitz des höheren moralischen Auftrags, er war bewaffnet.

Man könnte sich in etwa vorstellen, dass Richard Gere von einem Al Qaida-Helden weggesprengt würde. Als Rache für Osama Bin Laden.

Seltsamerweise käme heute wie damals heraus, dass das Ergebnis für die vom Attentäter vertretene politische Richtung so nützlich ist, wie für den Fortschritt der Demokratie und Kultur insgesamt: verschärfte Sicherheitsgesetze, Generalverdacht gegen jede fremde Herkunft bzw. abweichende Meinung bei noch mehr Leuten; liberale und kritische Geister erfreuen sich des Misstrauens der Masse wie der Obrigkeit und der deutsche Michel richtet sich auf Jahrzehnte – just so wie im Biedermeier – in seiner Spießeridylle ein, von wo aus er dem Rest der Welt genauestens erklärt, dass freilich der Mord am Filmstar ein Ärgernis sei, der Ermordete aber durch sein buddhistisches Bekenntnis der Tat Vorschub geleistet habe. Der Islam sei einmal kriegerisch, die Amerikaner allgemein unbeliebt, nun möge man es gut sein lassen, künftig still und eingezogen leben, wie’s deutsche Art ist.

Die Ablehnung neuer Technologien war seinerzeit ebenso verbreitet wie heute bei einem großen Teil der Bevölkerung. Man muss leider sagen, dass geldgierige Unternehmer sich darum nicht scherten. Vor allem im Ausland nicht, das steckte einige vaterlandslose Gesellen an. Viele Juden übrigens. Die Deutschen fanden das umoralisch, führten einige Kriege, um die Welt an der deutschen Moral genesen zu lassen – anscheinend stecken ihnen die Niederlagen in den Knochen. Die Aufgaben werden nicht kleiner: die Chinesen müssen von ihrer Kernkraft abgebracht, die Amerikaner sowieso geläutert werden.

Vorwärts zur Sonne, zur Freiheit: von fossilen Energieträgern, AKW und amerikanischem Imperialismus! Klar! Aber wozu die moralisch sauberen Deutschen die Welt befreien wollen – zu welcher Art des Zusammenlebens – davor ist mir ziemlich unheimlich.

Wer hat Angst vor Liz Taylor?

"Who's Afraid fo Virginia Woolf?". 1966

Image aus "Who's Afraid fo Virginia Woolf?" 1966 by thefoxling via Flickr

Foto aus dem Jahr 1981 von Alan Light bei Wikipedia

Foto aus dem Jahr 1981 von Alan Light bei Wikipedia

Sie war ein Star, sie erfüllte alle Wünsche ihres Publikums, einschließlich derer nach privaten Skandalen und Tragödien. Ich gestehe offen, dass mich Elizabeth Taylor nicht anzog, schon deshalb, weil sie ihre Egozentrik, ihre Divenhaftigkeit vor sich hertrug wie kaum eine andere Schauspielerin. Das spricht gegen meine Kompetenzen als Regisseur: einer wie Liz Taylor muss man gewachsen sein. Um so mehr bewunderte und bewundere ich, was in „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ dank Liz Taylor und ihrem Mehrfach-Ehemann Richard Burton filmisch aus Edward Albees Ehedrama wurde: ein Exempel für Konfliktmuster nicht nur in Ehen.
Es war insofern kein Zufall, dass sich schon im ersten Kapitel zu „Der menschliche Kosmos“ ein Hinweis auf Theaterstück und Film findet.
Liz Taylors Leben ist eine Wanderung durch strahlende Landschaften und schmutzigstes Elend. Sie ließ uns das spüren, wenn sie spielte. So ist sie unsterblich geworden.

Alltag, Tod und Traum

Pest, Cholera, Angestellt
Kann einer heute noch Balladen schreiben? Schillersches Pathos hilft sicher nicht weiter, aber wo steht geschrieben, dass Balladen nicht schräg, komisch, bissig sein dürfen?
Moral ist nicht mehr unbedingt Ansichtssache angesichts kollabierender Geldmaschinen, staatlicher Hehlerei, massenhafter Fürsorge als Milliardengeschäft. Moral könnte dem Überleben dienen.

Banalama (Ostberlin 1985)

12
Frau Warum bist du nicht gestorben. Warum bist du wieder hier. Ich will leben, ich will
auch an mich denken. Ich will nicht hier herumhocken und Windeln waschen, ich
bin jung. Geh zu deinem Vater, zu deinem feinen Papa, da kannst du dich breit
machen, scheiß ihm auf seine Autopolster, aber lass mich leben.
Kind 2 Papa, Papa.
13
Frau, Fürsorgerin
Frau Ich gebe sie nicht in ein Heim.
Fürsorgerin Aber es wäre das Beste. Ihr Vater sagt, Sie kümmern sich zu wenig. Der Junge
hatte Untergewicht. Sie arbeiten auch unregelmäßig.
Frau Die Kinder sind oft krank.
Fürsorgerin Und Sie gehen nachts aus.
Frau Den Kindern fehlt nichts.
Fürsorgerin Nein? Die Nachbarn haben Ihren Vater holen müssen, als Ihr Sohn schwer krank
war. Lungenentzündung. Das Kind schwerkrank, und die Mutter geht nachts aus.
Frau Es kommt nicht wieder vor.
Fürsorgerin Es geht so nicht weiter. Ihr Betrieb beklagt sich. Sie fehlen zu oft.
Frau Die Arbeit strengt mich zu sehr an. Und der Haushalt.
Fürsorgerin Nicht sehr ordentlich bei Ihnen.
Frau Den Kindern fehlt nichts.
Fürsorgerin Sie sind doch noch jung. Warum suchen Sie sich nicht wenigstens einen Freund,
jemanden, der für Ordnung sorgt.
Frau Die Scheißkerle wollen alle nur eines. Wenn sie haben, was sie wollen, hauen sie
ab. Wer will schon eine Frau mit Kind. Mit zwei Kindern.
Fürsorgerin Wenn Sie kein geordnetes Leben führen wollen, müssen wir die Kinder ins Heim
einweisen. Sie haben doch ein ordentliches Elternhaus. Warum verstehen Sie sich
nicht mit Ihren Eltern.
Frau Scheiße.
Fürsorgerin Wenn Sie nicht verstehen wollen, müssen wir die Kinder ins Heim einweisen.
Frau Nicht ins Heim. Ich gebe sie nicht in ein Heim.
14
wie 1 und 2 usw. usf.
15
Richter (verliest die Urteilsbegründung für die Frau — lebenslänglich wegen Mordes am 2. Kind)
Ende

Banalama (Ostberlin 1985)

11
Vater der Frau, Frau, Sandra
Vater Wo warst du?
Frau Wieso? Wieso bist du hier?
Vater Ich musste den Jungen ins Krankenhaus bringen. Wo kommst du her jetzt?
Frau Wieso, was ist mit dem Jungen?
Vater Ich will wissen, wo du herkommst!
Frau Wo ist das Kind?
Kind Mama.
Frau Nicht du. Wo ist Jonas?
Vater Wenn d nicht redest, siehst du den Jungen nicht wieder. Ich sorge dafür, dass er in
ein Heim kommt. Die Fürsorge weiß schon Bescheid. Also: Wo hast du dich
herumgetrieben?
Frau Lass mich in Ruhe. Sandra, wo ist dein Brüderchen?
Vater Du elende Hu… mit Ausländern treibst du dich rum! Willst du endlich reden!
Rede, sag ich dir, los, rede! (schlägt sie)
Frau (schreit)
Kind (schreit)
Vater Das will meine Tochter sein. Abschaum. Aber dir zeigen wir es. Dich werden wir
noch erziehen. Wir sind schon mit anderen fertig geworden.
Frau Bullenschwein. Scheißstasi. Kommunistensau. Wo ist mein Kind, du Nazi.
Vater Das wird dir noch leid tun.

Banalama (Ostberlin 1985)

9
Blonde, Frau, einige Zeit nach der Geburt des zweiten Kindes
Blonde Kommst du mit?
Frau Der Kleine ist krank.
Blonde Kann die Große nicht aufpassen?
Frau Sie ist zu klein. Erst drei.
Blonde Die beiden Bundis kommen heute wieder.
Frau Es geht nicht. Er hat Fieber. Vielleicht nächste Woche.
Blonde Mist. Dann muss ich allein gehen.
Frau Vielleicht kann ich nächste Woche wieder.
Blonde Der Kleine ist oft krank.
Frau Ich hätte mir von dem Schwein nicht noch ein Kind machen lassen sollen. Die
Große kann ich allein lassen.
Blonde Schließlich hast du ein Recht auf dein eigenes Leben. Also ich geh dann.
Frau Warte noch. Ich komme mit.
10
Zwei Bundis singen das Lied von Ramona Raffzahn

Banalama (Ostberlin 1985)

8
Mann, Frau, Fernsehen, zum Schluss das Kind
Mann Wo kommst du jetzt her?
Frau Wo soll ich herkommen?
Mann Weißt du, wie spät es ist?
Frau Nein.
Mann Das Kind hat die ganze Nacht geschrieen. Wo warst du?
Frau Aus.
Mann Wo mit wem? Wo warst du aus? Du bist schwanger.
Frau Ich bin müde.
Mann Ich will wissen, was los ist.
Frau Lass mich, sonst schreit das Kind wieder.
Mann Ja. Es ist dein Kind und du treibst dich rum. Schwanger. Ich will wissen, was los
ist.
Frau Nichts. Du bleibst oft genug weg.
Mann Ich habe auch kein Kind.
Frau Nein. Für die Scheiße bin ich da. Für das Kind, für den Haushalt, fürs Bett. Wenn
du keine Lust hast, haust du ab. Dir ist alles egal. Ich bin dir egal, dein Kind ist dir
egal, sogar dein eigenes. Ich will auch noch etwas von meinem Leben haben.
Mann Und wer schafft hier die Kohle ran? Du? Du kannst doch nichts. Wer bist du
schon. Rumtreiben, das kannst du. Die Beine breit machen für andere. Wer weiß,
ob das Kind von mir ist.
Frau Du Schwein.
Kind (schreit)

Banalama (Ostberlin 1985)

6
Mann, Frau, Kind
Kind (schreit)
Mann Tür zu!
7
Mann, Frau, Fernsehen, später Kind
Frau Komm.
Mann Ich bin müde. Ich habe gearbeitet. Ich bin jetzt müde.
Frau Magst du mich nicht mehr?
Mann Doch. Aber ich bin zu müde.
Frau Immer bist du müde. Du magst mich nicht mehr.
Mann Ich muss arbeiten. Für dich, für das Kind.
Frau Du magst mich nicht mehr. Du magst das Kind nicht. Du hast es nie gemocht und
jetzt magst Du mich auch nicht mehr.
Mann Unsinn.
Frau Ich bin schwanger.
Mann Was?
Frau Ich bin schwanger.
Mann Du bist verrückt. Wieso? Seit wann weißt du das? Mein Gott.
Frau Du freust dich nicht einmal.
Mann Wir sitzen immer noch in der engen Wohnung. Es ist nichts da. Nichts ist da.
Noch ein Kind.
Frau Dein Kind. Ich wollte es, weil ich dachte, dass du mich liebst.
Mann Liebe, Liebe. Man muss erstmal was sein. Ohne Geld geht nichts. Und dieses
Loch von Wohnung. Ist eins nicht genug?
Kind Mama. Mama!
Mann Sei still. Ich will nicht noch ein Kind. Ich wollte überhaupt kein Kind. Jetzt ist
eines da, gut, aber das ist genug.
Frau Wohin gehst du?
Mann Ich muss hier raus.
Kind Mama. Mama!
Frau Sei still. Du. Alles machst du kaputt, an allem bist du schuld.