Ich muss etwa zwölf, dreizehn Jahre alt gewesen sein, als mir die Großmutter vorschlug, ihr bei der Pflege des damals achtzigjährigen Onkel Walter zu helfen. Ich sollte ihm mittels eines elektrischen Trockenrasierers alle drei Tage den Bart abnehmen. Meine Mutter war in dem „Volkseigenen Betrieb“ beschäftigt, der diese Apparate namens „Komet“ herstellte, einer davon wurde zu günstigen Konditionen erworben, ich lernte die Faltengebirge im Gesicht meines Onkels kennen, während ich mit oszillierenden Stahlkämmen durch weiße Bartstoppeln wanderte. Ich tat es nicht gern, aber es brachte mir 50 Pfennige ein, genug für Eiswaffeln – die Kugel kostete seinerzeit einen Groschen – und der Aufenthalt beim Onkel beförderte das Interesse am Rauch. Opas Pfeifen, leider vor allem die aus feinem, aber empfindlichen Meerschaum, waren fast alle frühkindlicher Lust am Auseinandernehmen erlegen. In einem unbeobachteten Moment füllte ich eine der überlebenden mit Zigarrenenden aus des Onkels Schachtel. Damit begab ich mich zu einem unbeobachteten Ort: dem Klo.
Die Tonleiter-Treppe im Weihnachtshaus kennen Sie ja schon. Auf dem Treppenabsatz – wir nannten ihn Podest – war die Tür zum „Klohäuschen“, einem Anbau ans 200 Jahre alte Fachwerk. Im Inneren durfte auf der Brille einer Sitzschüssel über einem Fallrohr Platz nehmen, wer seinen Darminhalt den Gesetzen der Schwerkraft anvertrauen wollte. Gelang es ihm, offenbarte das Geräusch aus der Tiefe den Sinn der Namensgebung fürs Häusel: Plumpsklo. Weitere Details erspare ich Ihnen. Strenge Winter wie vor 60 Jahren gibt es nicht mehr, Plumpsklos ebenso wenig, niemand muss mehr – wie meine Mutter seinerzeit – mit einem Eimer kochend heißen Wassers und einem mannshohen Knittel aus Buchenholz ein zugefrorenes Fallrohr freistochern.
Die Gravitationsgesetze gelten freilich noch in modernsten Sanitäranlagen, und – ob Sie‘s glauben oder nicht – in unserem alten Plumpshäusel war das Rauchen ebenso tabu wie heute in Flugzeug-, ICE- oder Behördentoiletten. Vermutlich lag das an Tante Martha, der Ehefrau von Onkel Walter. Sie war eine erbitterte Tabakfeindin. Zu ihren Lebzeiten hatte der Rentner niemals in der Wohnung rauchen dürfen. Er saß bei schönem Wetter auf einer Bank im Garten oder Hof, bei Regen und Dunkelheit bisweilen im Wirtshaus nebenan, öfter seinem Bruder Karl gegenüber am Schachbrett. Sie versuchten, sich gegenseitig matt zu setzen und meine Großmutter zu räuchern, aber die rheinische Frohnatur erwies sich als äußerst widerstandsfähig. Sie überlebte ihren Mann um vierzig, den Schwager um dreißig Jahre. Tante Martha war – ungeräuchert – lange vor ihrem Gemahl dahingeschieden, weshalb ich an seinen Bart und die abgeschnittenen Zigarrenenden kam. Sie verstehen jetzt auch den besonderen Reiz meiner Initiation als Pfeifenraucher auf dem Plumpsklo: Der Dreizehnjährige brach gleich zwei Tabus: Das Tabakverbot im allgemeinen und Tante Marthas Bann im besonderen.
Das erwies sich obendrein als Glücksfall: Als ich den ersten der schönen Meerschaumköpfe gestopft hatte, fiel mir ein Zeitungsfoto ins Auge. Sie müssen wissen, dass Toilettenrollen in uns geläufiger Form seinerzeit in der DDR unbekannt waren. Wir hatten die Wahl zwischen einer auf Rollen gewickelten Sorte von mittelfeinem grauem Schleifpapier, das nicht in ausreichender Menge produziert wurde, und rechteckig zugeschnittenen alten Zeitungen, die den Mangel überbrückten. Möglicherweise war diese Knappheit sogar von Partei- und Staatsführung gewünscht, weil viele Leute – so wie ich – die Zeitungen noch einmal in die Hand nahmen und lasen, ehe die „Organe des Zentralkomitees der SED“ oder der SED-Bezirksleitungen den Weg übers Hinterteil nach ganz unten antraten.
Jeder – bis hinauf ins Politbüro mit dem Ersten Sekretär und Staatsrats-Vorsitzenden an der Spitze – wusste von diesem Alltagsritual. Nur öffentlich darüber zu reden, war tabu. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Aber so leuchtete immerhin ein, warum die Herren der Planwirtschaft nicht alles daran setzten, den Frevel an ihren staatserhaltenden Publikationen zu unterbinden, indem sie mehr, gar bessere Klorollen produzieren ließen.
Jenes Foto also, das mich für einige Minuten hinderte, die Pipe zu entzünden, es zeigte ein bekanntes Gesicht, einen schnauzbärtigen Mann von etwa 50 im eleganten Dreiteiler mit Schlips und Kragen. Die rechte Hand schließt sich um einen Pfeifenkopf, die Pfeife im rechten Mundwinkel, schaut er mit verschmitzter Miene an der Kamera vorbei. Sein graues Haar wuselt um den Kopf herum, als habe eine Hexe es durchwühlt. Es ist ein Opa-Gesicht. Im Text unter dem Bild lese ich: „Vor 30 Jahren kehrte der berühmte Physiker und Nobelpreisträger Albert Einstein Nazi-Deutschland endgültig den Rücken. Heute gehört er zu den Verbündeten im Kampf gegen den Atomtod“. Der zugehörige Artikel handelte von einem Buch über ihn, das gerade erschienen war, aber das interessierte mich nicht.
Ich wusste in diesem Moment nur eines: Pfeife rauchen ist großartig. Nicht wegen des Kampfes gegen den Atomtod, sondern weil dieser berühmte Einstein so sympathisch war in seinem eleganten Anzug, mit der wilden grauen Mähne und den Lachfältchen um die Augen. Er war ganz anders als der Physiklehrer und Schuldirektor mit Spitznamen Giftzwerg, der auf den Zehenspitzen wippte, mit dem Zeigefinger fuchtelte, Tadel an Unaufmerksame verteilte, wenn er bei uns unterrichtete. Einstein war wie mein Opa, seine Augen waren neugierig und gütig. Ich hätte gern sofort mit ihm um die Wette Kringel produziert. Also setzte ich Onkel Walters Zigarrenreste in Brand.